Kritik zu Schwanensee: 48 Schwäne im Wiener MQ

von Natalie Lamprecht 16.01.2017

Bevor ich in medias res gehe, möchte ich allen LeserInnen eine Warnung zukommen lassen: Ich habe am Konservatorium der Stadt Wien die Ausbildung zur Balletttänzerin abgeschlossen. Meine Begabung zur klassischen Tänzerin hielt sich in engen Grenzen, sie als medioker zu bezeichnen wäre wohl noch euphemistisch. Und auch wenn es schon sehr lang her ist und ich fast alles, was meine tänzerische Ausbildung betrifft, bereits (willentlich) vergessen habe: Ein bisschen Ahnung habe ich. Noch etwas muss der/die geneigte LeserIn wissen: Es mag das Ballettklischee schlechthin sein, aber Schwanensee ist mit Abstand mein absolutes Lieblingsballett; nicht nur, weil Pjotr Iljitsch Tschaikowskis Musik und die Choreographien (ja, es gibt mehrere, und ja, dieses Wort schreibe ich immer noch mit einem ph) himmlisch sind, sondern auch, weil die Geschichte gleichsam schlicht und doch profund ist. Und Schwäne sind sowieso einfach nur schön, egal, ob in natura oder als grazile Ballerina in Weiß. Das Ballett ist der Archetyp für Ballette schlechthin. Wer sich an es herantraut, wie das St. Petersburg Festival Ballet, und dazu an der Erfolgsformel rührt – in der hier besprochenen Version treten 48 statt der üblichen 24 Schwäne auf –, hat entweder ein sehr großes Ego oder sehr, sehr viel Können. Oder beides.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet

Die Geschichte von Schwanensee ist relativ schnell erzählt: Prinz Siegfried bekommt von seiner Mutter, der Königin, zum Geburtstag eine Armbrust für die Jagd geschenkt. Nach der Feier begibt sich Siegfried in den nahe gelegenen Wald zu einem See, um seine Armbrust auszuprobieren – als ihm eine wunderschöne Frau begegnet. Nachdem sich deren anfängliche Scheu gelegt hat, erzählt sie ihm, dass sie eine vom bösen Zauberer Rotbart in einen Schwan verwandelte Prinzessin sei. Odette, so ihr Name, und ihre Gefährtinnen, die ebenso in Schwäne verwandelt wurden, erhielten nur zwischen Mitternacht und der Morgendämmerung ihre menschliche Gestalt zurück. Sie könnten nur vom Fluch befreit werden, wenn ein Mann Odette ewige Treue schwören und diese niemals brechen würde – was Siegfried umgehend freudvoll auf sich nimmt.

Schwanensee, Pas de Deux, weißer Schwan

Weißer-Schwan-Pas-de-Deux der St.-Petersburg-Festival-Ballet-Aufführung von „Schwanensee“. Foto v. Guido Ohlenbostel.

Am nächsten Tag finden weitere Feierlichkeiten am Hof statt, bei denen sich Siegfried eine Braut aussuchen soll. Doch dieser hat naturgemäß nur die schöne Odette im Kopf und lehnt alle Bewerberinnen ab – bis Rotbart in Gestalt eines Fürsten mit seiner Tochter erscheint, die er, um Siegfried in Versuchung zu führen, in Odile, eine laszive Version von Odette, verwandelt hat. Siegfried, geblendet von der Schönheit des „schwarzen Schwans“ Odile und nur allzu geneigt, in ihr Odette zu erkennen, bittet den vermeintlichen Fürsten um deren Hand und schwört ihr, auf Rotbarts Drängen hin, ewige Treue – woraufhin sich der böse Zauberer zu erkennen gibt. Erst jetzt begreift Siegfried, dass er seinen Eid gebrochen hat, und eilt zu Odette, um sie um Verzeihung zu bitten, was sie ihm auch gewährt; den Treuebruch kann jedoch auch ihre Absolution nicht rückgängig machen.

Schwanensee, Pas de Deux, schwarzer Schwan

Schwarzer-Schwan-Pas-de-Deux der St.-Petersburg-Festival-Ballet-Aufführung von „Schwanensee“. Foto v. Guido Ohlenbostel.

Was nun folgt, unterscheidet sich von Choreographie zu Choreographie: Da Tschaikowski das Stück in H-Dur ausklingen lässt, liegt der Schluss nahe, er habe ein gefälliges Ende intendiert, in dem die Liebe über das Böse siegt. Dies wurde auf zwei Arten umgesetzt: Die simpelste Lösung ist, dass Siegfried Rotbart im Kampf besiegt und die Liebenden glücklich vereint werden. Die zwar dramatische, aber nicht minder schöne Interpretation lässt sowohl Siegfried als auch Odette in den von Rotbart mittels eines Zaubers aufgepeitschten Fluten des Schwanensees ertrinken, und die beiden fahren, im Tod vereint, in einer Barke gemeinsam ihrem ewigen, glücklichen Leben entgegen. Die dunkelste Variante ist wohl jene, in der Siegfried im stürmischen See ertrinkt und die verzweifelte Odette, nun ewig in ihrer Schwanengestalt gefangen, zurücklässt. Welche dieser Versionen das St. Petersburg Festival Ballet wählt, möchte ich offenlassen.

Nur echt mit 48 Schwänen?

„Was könnte besser sein als 24 Schwäne auf der Bühne? Ganz klar: 48!“ – so oder so ähnlich mögen die Überlegungen zu diesem vor Schwänen übergehenden Schwanensee gewesen sein. So abwegig ist dieser Gedankengang gar nicht: Das wohl durchgetaktete Corps de Ballet in schlichten weißen Tutus macht unter anderem den Zauber des zweiten und vierten Aktes aus (deshalb werden diese im Übrigen auch „weiße Akte“ genannt), und je mehr Schwäne auf der Bühne stehen und perfekt harmonieren, umso beeindruckender ist das Gesamtbild. Dass im Programmheft zum Stück von einer „choreographischen Meisterleistung“ die Rede ist, die den Tänzerinnen „beispiellose Disziplin“ abverlangt, ist deshalb keine Übertreibung. Der Veranstaltungsort machte dieser Grundidee meines Erachtens aber leider einen Strich durch die Rechnung: Die Bühne des MuseumsQuartiers ist schlicht zu klein, um dieser barocken Schwanenflut einen geeigneten Rahmen zu bieten. Die Tänzerinnen gaben ihr Bestes, dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass 48 Schwäne auf diesem kleinen Raum eher kontraproduktiv sind; die Hälfte, so wie in der Choreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow vorgesehen, hätte vollkommen gereicht.

Weißer-Schwan-Pas-de-Deux der St.-Petersburg-Festival-Ballet-Aufführung von „Schwanensee“. Foto v. Guido Ohlenbostel.

Generell schien der Funke nicht so recht auf das Publikum überspringen zu wollen, das sich als klatschfaul erwies; woran es lag, darauf vermag ich meinen Finger nicht zu legen. Das augenscheinlich wohl eingespielte SolistInnenduo Svetlana Smirnova und Alexander Abaturov legte eine solide Performance ab; für meinen Geschmack liegt Smirnova die Rolle des schwarzen Schwans besser als die des weißen. Für all jene, die es nicht wissen: Ursprünglich waren die beiden Parts für unterschiedliche Tänzerinnen vorgesehen. Der weiße Schwan sollte von einer lyrischen Tänzerin, der schwarze Schwan hingegen von einer technisch versierten Tänzerin mit koketter Ausstrahlung getanzt werden; bald wurden jedoch beide Rollen von nur einer Solistin übernommen, die so ihre Wandlungsfähigkeit beweisen konnte. Smirnova war mir als weißer Schwan etwas zu distanziert, gar konturlos, als schwarzer Schwan konnte sie mich jedoch durchaus überzeugen. Da das Ensemble die Chorographie Petipas/Iwanows für seinen Schwanensee gewählt hat, die Odette/Odile in den Mittelpunkt stellt und Siegfried, bis auf wenige Ausnahmen, zu einem „Ballettstangendasein“ degradiert – der Mann dient hier als Pirouetten- und Posenhilfe der Frau und hat sonst nur selten viel genuin Tänzerisches beizutragen –, kann ich zu Abaturovs Leistung nur sagen: Das, was ich gesehen habe, war überzeugend. Das nächste Mal gern mehr davon.

Und das Corps de Ballet, das die heimliche Hauptrolle in diesem 48-Schwäne-Stück hat? Nun ja, ich bin zwiegespalten. Was zuerst eine vage Vermutung war, stellte sich beim Durchlesen des Programmhefts als Gewissheit heraus: Das Niveau der Tänzerinnen divergiert, da das Ensemble eigens für die Inszenierung mit 30 Tänzerinnen der Staatlichen Ballettakademie Kiew erweitert wurde. Wer ein Auge dafür hat, wird die Unterschiede erkennen. So schön die 48 Schwäne in einer Inszenierung auch sein könnten (vorausgesetzt, sie haben eine Bühne, die ihnen gerecht wird) – wenn nicht jede Bewegung sitzt, perfekt synchronisiert ist und alle Tänzerinnen das gleiche, hohe Niveau haben, schmälert das bei Leuten, die ein Auge dafür haben, das Vergnügen. Was mich wieder zu meiner Ausgangsbehauptung führt: 24 Schwäne sind mehr als genug.

Schwanensee

48 Schwäne der St.-Petersburg-Festival-Ballet-Aufführung von „Schwanensee“. Foto v. Guido Ohlenbostel.

Fazit

In der Pause zwischen dem zweiten und dritten Akt traf ich zufällig eine Arbeitskollegin, die mir freudig und mit leuchtenden Augen sagte, dass ihr die Aufführung sehr gut gefalle. So ist es eben, wenn man sich auf einem gewissen Gebiet nicht mehr zu den LaiInnen zählen darf: Es fallen einem/einer Dinge auf, die anderen entgehen und das eigene Erleben trüben. Deshalb hier mein salomonisches Urteil: Wer, wie ich, Ahnung von der Materie hat und feine Nuancen in der Technik der TänzerInnen ausmachen kann, ist mit dem Schwanensee des österreichischen Staatsballetts wohl besser bedient. Wer aber vollkommen unbedarft in die Aufführung geht, in der Hoffnung, eine schöne Inszenierung mit ganz, ganz vielen zauberhaften Schwänen, beeindruckenden Kostümen und versierten SolistInnen zu sehen, dem/der sei der 48-Schwäne-Schwanensee des St. Petersburg Festival Ballet wärmstens ans Herz gelegt.