James liest: Das Erwachen von Andreas Brandhorst

von Matthias Jamnig 22.10.2017

Obwohl die Genrebezeichnung auf dem Katonumschlag zu finden ist, bedient Andreas Brandhorst in seinem neuesten Roman Das Erwachen die Definition von Thriller nur bedingt. Doch gerade darin liegt die Stärke der aufwühlenden IT-Dystopie.

Das Erwachen

(Copyright by Piper Verlag)

Laut Duden handelt es sich bei einem Thriller (in Buchform) um “einen Roman, der Spannung und Nervenkitzel erzeugt.” Andreas Brandhort verzichtet aber – zumindest für mein subjektives Leseempfinden – weitestgehend auf kurzweiligen Nervenkitzel. Und auch der Begriff Spannung greift meines Erachtens nach zu kurz. Denn die Erzählung des Autors löst etwas tiefer Sitzendes aus, das sich aber nicht in der sprichwörtlichen, unmittelbaren Gänsehaut manifestiert. Vielmehr bleibt am Ende eine Verstörung, eine bedrückende Ungewissheit und die Erkenntnis, dass die fiktiv erzählte Geschichte eine nur allzu reale Gefahr skizziert. Am Besten lässt sich die Erfahrung wohl in einem Zitat aus James Camerons Strange Days zusammenfassen: “Paranoia, das heißt doch nur, die Wirklichkeit realistischer zu sehen als andere.”

Eine neue Form der Intelligenz

Doch ich greife voraus. Bevor die beschriebene Wirkung des Romans eintritt, geht es natürlich erst einmal um dessen Inhalte. In Das Erwachen nimmt sich Andreas Brandhorst nämlich ein brandaktuelles Thema vor: Es geht um künstliche Intelligenz oder vielmehr um die Weiterentwicklung ebendieser zu einer übermächtigen Maschinenintelligenz. Der Hacker Axel Krohn setzt bei einem gewagten, virtuellen Coup versehentlich ein Computervirus frei. Als sich dieser verselbstständigt und unzählige der leistungsfähigsten Rechner auf der ganzen Welt mitteinander vernetzt, erwacht in den Weiten des World Wide Web und darüber hinaus eine Entität. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt, denn innerhalb weniger Tage steht die Menschheit vor dem Rückfall in die Barbarei, als sich Störfälle häufen und Infrastrukturen lahmgelegt werden.

Das Erwachen stellt zum einen die Person Axel Krohn und zum anderen die erwachende Maschinenintelligenz in das Zentrum der Handlung. Beide durchlaufen im Zuge der Erzählung eine rasante Entwicklung, die das Grundgerüst der Handlung bildet. Andreas Brandhorst versteht es aber gekonnt mehrere inhaltliche Nebenstränge mit diesem roten Faden zu verknüpfen. So lernen wir den IT-Cop Coorain Coogan, die UN-Beamte Viktoria Jorun Dahl, einen deutschen Kommissar, einen Nero-esken italienischen Staatsekretär und viele andere Charaktere kennen. Diese starten mit unterschiedlichsten Motivationen und an den unterschiedlichsten Orten der Welt in die Geschichte und doch laufen alle Fäden am Ende gekonnt zusammen. Anhand der detailliert gezeichneten Charaktere wagt Brandhorst obendrein einen Blick in die menschliche Psyche in Ausnahmesituationen. Heldenmut trifft auf Pragmatismus, Vernunft auf Wahnsinn und zu guter Letzt Hoffnung auf Resignation.

Fiktive Bedrohung und reale Gefahr

Das Erwachen ist in einer nicht allzu fernen Zukunft angesiedelt. Geschickt verknüpft der Autor jedoch Zukünftiges mit der Gegenwart. So finden sich natürlich Google, NSA, NATO, Facebook und viele weitere Begrifflichkeiten aus der aktuellen Welt im Roman wieder. Und hier liegt die Wurzel des atypischen “Thrills”. Ein aktuelles Beispiel vermag die über den Lesezeitraum hinausgehende Wirkung des Buches vielleicht am Besten zu illustrieren. “Computer bringt sich selbst Go bei – und wird Weltklasse” stand vor wenigen Tagen in der FAZ zu lesen. Vor der Lektüre des Brandhorst-Romans hätte ich diesen Artikel mit einer Kombination aus Faszination, Neugier und möglicherweise Verblüffung gelesen. Heute komme ich nicht umhin, schon bei der Überschrift ein gewisses Unbehagen zu empfinden. Unweigerlich manifestiert sich die Frage im Kopf: “Tut sich die Menschheit damit einen Gefallen?”

Und hier liegt die wahre Stärke von Das Erwachen. Denn diese zeigt sich nicht in klassischen Schock-Elementen oder in fesselnden Einzelkapiteln, sondern im Einsickern einer schleichenden, latenten Paranoia. Das Spannungsmoment entfaltet sich also nur bedingt während des Lesens. Die wahre Tücke des Buches liegt darin verborgen, dass man tagtäglich mit den Elementen konfontiert wird, die Brandhorst als Gefahr für die Menschheit oder zumindest als deren Wurzel indentifiziert. Und hier verschwimmen die Grenzen von Realität und Fiktion. “Was wird aus der Menschheit, wenn sie es plötzlich mit einer völlig fremdartigen Intelligenz zu tun bekommt? Die Gefahr ist real.” Diese beiden Sätze schreibt der Autor im Nachwort. Sie bleiben hängen. Und sie sorgen gepaart mit den Verknüpfungen der erzählerischen Dystopie mit nur allzu bekannten Elementen aus der Gegenwart für ein lang anhaltendes Gefühl der Unsicherheit.

Mein Fazit zu Das Erwachen

Ob FreundInnen klassischer Thriller-Literatur à la Dan Brown oder Michael Crichton mit Andreas Brandhorts Neuling umgehend warm werden, wage ich zu bezweifeln. Denn wer seine Leseleidenschaft eher durch omnipräsente Spannung und kurzweiligen Nervenkitzel erfüllt sieht, vermag in der eher romanhaften Erzählweise des Autors diese Merkmale nicht vorzufinden. Zudem sollte der/die Lesende eine gewisse IT-Affinität mitbringen. Diese ist zwar nicht zwingend nötig, hilft aber ungemein beim Eintauchen in die Geschichte. Vorwissen ist ebenfalls dienlich aber gewiss keine Grundvoraussetzung. Denn Andreas Brandhorst versteht es vorzüglich eine komplexe Materie für nahezu alle Leserschichten verständlich aufzubereiten.

Am Ende der Menschheit… ähm… des Tages steht der Titel Das Erwachen für zwei Aspekte: zum einen natürlich für das Erwachen der Maschinenintelligenz in der Fiktion und zum anderen für das Erwachen der Paranoia des Lesenden in der Realität. Alles, was zwischen diesen beiden Aspekten liegt, sorgt für einen gelungenen IT-Roman, der LeserInnen auch lange nach der Lektüre nicht loslassen wird.

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