Die Graphic Novel Anyas Geist im Test

von Natalie Lamprecht 05.03.2014

„Ein Meisterwerk“, urteilte Neil Gaiman über Anyas Geist, die erste Graphic Novel von Vera Brosgol, einer US-amerikanischen Animationskünstlerin und Comiczeichnerin mit russischen Wurzeln – zu Recht, wie es scheint, gewann Brosgol mit dem 2011 publizierten Werk doch sowohl den Eisner Award in der Kategorie „Best Publication for Teens“ als auch den Harvey Award in der Kategorie „Best Original Graphic Publication For Younger Readers“, zwei besonders renommierte Auszeichnungen für Comicschaffende. Ob sich die Geschichte rund um die Teenagerin Anya und „ihren“ Geist diese Blumen verdient hat oder vielleicht doch nur über den grünen Klee gelobt worden ist, möchte ich in meinem Review ausloten.

Anyas Geist_Bild

Facts

  • Genre: Fantasy, Humor, Mystery
  • Publisher: Tokyopop
  • Autorin: Vera Brosgol
  • Releasetermin: Februar 2014

Die Geister, die sie rief …

Der alte Goethe wusste es: Hochmut kommt vor dem Fall. Bei Anya Borzakovskaya, der Protagonistin in Anyas Geist, ist es jedoch eher Missmut, der vor dem Fall kommt, wird der unter ihrer vermeintlichen Pummeligkeit leidenden Teenagerin doch gleich zum Frühstück fetter russischer Kuchen und eine dazu passende Binsenweisheit serviert: „In Russland bedeutet dick zu sein, dass man ein reicher Mann ist.“ Und das von ihrer Mutter, die wissen sollte, dass Fettsein in den USA, der Wahlheimat der – wir ahnen es schon – aus Russland stammenden Familie, nicht gerade ein erwünschtes Attribut ist. Entnervt von der Überfürsorglichkeit der Alleinerzieherin und dem Krakeelen ihres kleinen Bruders Sasha, macht sich Anya auf den Schulweg – und gerät vom Regen in die Traufe: Beim Warten an der Bushaltestelle muss sie nicht nur mitansehen, wie ihr heimlicher Schwarm Sean nur Augen für die schlanke, blonde Elizabeth hat, sondern gerät zu allem Überfluss auch noch mit ihrer besten Freundin, der bissigen Siobhan, über deren Zigarettenschnorren in Streit.

Anya beschließt daraufhin, die teure Privatschule an diesem miesen Tag sein zu lassen und mit einem Spaziergang den Kopf freizubekommen. So viel zum Missmut. Der Fall folgt auf dem Fuße: Da die übel gelaunte Protagonistin die Ereignisse des Tages Revue passieren lässt und deshalb nicht auf den Weg achtet, übersieht sie ein großes, metertiefes Loch im Boden – und fällt prompt hinein. Als sie nach einer kurzen Benommenheit wieder zu sich kommt und sich orientiert, macht sie einen grausigen Fund: Auf dem Boden des Lochs liegt ein Skelett. Dieser Schock schreit nach einer Beruhigungszigarette, doch nachdem die ersten Rauchschwaden verflogen sind, muss Anya feststellten, dass es sich ein freundlich lächelnder Geist einer jungen Frau auf dem Skelett gemütlich gemacht hat. Anya, ziemlich bald mehr neugierig denn verängstigt, findet im Gespräch mit dem Geist heraus, dass es sich um Emily Reilly handelt, die einst vor 90 Jahren (rund um WK I) ebenso in das Loch fiel, nicht gefunden wurde und schließlich verstarb. Keine guten Aussichten – doch Emily soll sich bei der Rettung Anyas noch als hilfreich erweisen. Es liegt auf der Hand, dass sie auch später noch eine wichtige Rolle im Leben der Protagonistin spielen wird. Ob der „gute Geist“ aber wirklich so freundlich und selbstlos ist, wie es scheint, möchte ich an dieser Stelle offenlassen. Nur so viel: Geister wandern meist nicht umsonst ruhelos auf Erden …

Kritik

Zuerst einmal: Ja, die Brosgol kann zeichnen, sehr gut sogar, wie ich finde. Die Graphic Novel bedient sich ausschließlich Weiß, Schwarz und Grau, wobei das Schwarz auf manchen Seiten leicht ins Grünliche, auf anderen wieder leicht ins Rötliche geht – dies folgt jedoch anscheinend keiner Logik (sie mag mir auch entgangen sein) und ist wohl schlichtweg druckbedingt. So monochrom die Farbgebung ist, so varianten- und detailreich sind die jeweiligen Charaktere gestaltet. Jede Gebärde, jede Mimik sprüht vor Expressivität, und besonders das Mienenspiel Anyas ist reich an Nuancen und mit ein Grund, warum die Protagonistin so liebenswert ist. Der Stil insgesamt ist rund und vielleicht sogar ein bisschen zu „süß“ für die teilweise doch schwere Kost der Graphic Novel; das Düstere der Geschichte wird so jedoch auch etwas aufgelockert. Kurz und knapp: Diese fachliche Qualifikation der jungen Comiczeichnerin ist über jeden Zweifel erhaben.

Doch nicht alle ComiczeichnerInnen können auch Texte verfassen, und hier liegt auch die Krux dieses Werks. Nicht, dass die Geschichte nicht interessant, stellenweise sogar originell wäre – für mich gab es in der Erzählung sogar so etwas wie einen kleinen „plot twist“, nachdem ich mich bereits darauf eingestellt hatte, eine 0815-Todesfallaufklärungsstory mit moralinsaurem Einschlag vor mir liegen zu haben. Dennoch kann mich die Geschichte rund um die junge Einwanderin aus Russland nicht ganz überzeugen. Dabei hat sie viele gute Ansatzpunkte: Immerhin werden hier relevante Identitätsfragen wie die nach dem Zusammentreffen der „eigenen“ mit der „anderen“ Lebenswelt aufgeworfen, und zwar auf mehreren Ebenen. Denn Anya signifiziert mit ihrem sogenannten Migrationshintergrund und ihrem Teenagersein gleich zwei Zwischenwelten: den „Nichtort“ zwischen verschiedenen Kulturen und jenen zwischen verschiedenen Altersphasen. Es ist kein kleiner Kunstgriff von Brosgol, diese russisch-amerikanische, halb erwachsene Protagonistin auf einen Geist treffen zu lassen, der wie eine Metapher für dieses „Existieren im Dazwischen“ ist – denn auch Emily hat noch eine Aufgabe zu erledigen, eine Lektion zu lernen, um eine Transgression einzuleiten und damit Frieden zu finden. Nicht umsonst heißt das Werk Anyas Geist, drückt der possessive Genitiv ja beide Möglichkeiten aus: dass Emily Anyas Geist und auch ihr ureigener Geist ist – in Emily treffen sich also die Begehrlichkeiten beider junger Frauen, sie sind eins. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Emily mit Anyas Entwicklung (auf ungeheuerliche Weise) mitwächst. Und es ist auch nicht verwunderlich, dass Anya schließlich zum Ort, an dem alles seinen Ausgang genommen hat, zum Loch, zurückkehren wird, um diese Entwicklung abzuschließen – beinahe ließe sich also von seiner Odyssee sprechen.

Was sich so orchideenleserisch und kompliziert anhört, ist im Großen und Ganzen aber recht durchschnittlich und vorhersehbar: Schon bald können die LeserInnen antizipieren, wohin sich die Erzählung entwickeln wird, und nachdem man die letzte Seite gelesen hat, fragt man sich: „Das ist das Meisterwerk, von dem Neil Gaiman gesprochen hat?“ Ich hatte das Gefühl, dass es sich die Comicautorin, die Brosgol ja auch ist (oder sein möchte), etwas zu einfach gemacht hat: Nicht immer lassen sich Probleme so einfach bewältigen, wie in der Geschichte rund um Anya suggeriert; nicht immer löst sich alles – alle Geister, die man rief, seien es Ängste, Selbstzweifel oder Gespenster namens Emily – in Wohlgefallen auf. Um ein Meisterwerk vorzulegen, hätte sich Brosgol profunder mit der von ihr angerissenen Thematik der Identitätskrise auseinandersetzen müssen – und damit wiederum den Rahmen dieser Graphic Novel wohl gesprengt. Denn bleiben wir fair: Anyas Geist ist auf ein eher jugendliches Zielpublikum ausgerichtet, das sich mit den Problemen der Protagonistin identifizieren und im besten Fall vorgelebt bekommen soll, wie sich damit umgehen lässt. Das Werk kann diesen Anspruch wahrscheinlich sogar einlösen. Zudem ist es vielleicht auch hier wie mit Brosgols Zeichenstil: Sie setzt dem Deprimierenden etwas Positives, hier eine Art „Happy Ending“, entgegen, um die Balance zu halten – was per se ja nicht unbedingt ein schlechter Ansatz ist. Für Geschichten wie auch das Leben an sich.

Zusammenfassung

Brosgol hat für ihre jungen Jahre ein beeindruckendes Exempel für ihr Können abgeliefert, vor allem, was das Zeichnerische betrifft: Die Graphic Novel ist durch das Schwarz-Weiß-Grau einerseits düster, wirkt durch die liebevolle und detailreiche Zeichnung der Charaktere mit großem Gespür für die passende Mimik und Gestik und den runden Stil andererseits beinahe niedlich – was meines Erachtens durchaus auch als gute Mischung gewertet werden kann. Die Story hingegen ist, trotz des Bemühens der Comickünstlerin, der Erzählung durch witzige und auch zum Nachdenken anregende Dialoge Tiefe zu verleihen und durchaus wichtige Themen wie Identitätssuche, Selbstakzeptanz und den Wert von Empathie aufzugreifen, etwas unausgereift und hätte hie und da noch ein paar Ecken und Kanten, etwas mehr Profil vertragen. Da Anyas Geist sich jedoch an ein jugendliches Zielpublikum richtet, das sich mit hoher Wahrscheinlichkeit auf die eine oder andere Weise mit der Protagonistin identifizieren und ihre Entwicklung auch gut nachvollziehen kann – nicht umsonst hat das Werk den Award „Best Publication for Teens“ bekommen –, und Brosgol selbst noch dabei ist, als Künstlerin zu wachsen, sei ihr diese Unausgereiftheit verziehen. Ich bin gespannt, mit welchen Publikationen diese vielversprechende Comiczeichnerin uns in Zukunft beehren wird!

Wertung: 8 Pixel

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