Anno 1800 im Test: Das beste Anno – zumindest teilweise

von David Kolb-Zgaga 18.04.2019

Anno 1800 ist das beste Anno aller Zeiten – zumindest teilweise. Mit dem neuesten Serienableger hat Bluebyte Community nahe gearbeitet und zurück zu den eigenen Wurzeln gefunden. Zwar gibt es immer noch ein paar Kritikpunkte, im Jahr 2019 werdet ihr aber kein besseres Aufbaustrategiespiel als dieses hier finden.

Eine lange Reise voll interessanter Entscheidungen

Es gibt so viel zu tun und noch so viel zu erledigen. Wie früher besiedle ich mit einem Schiff eine eigene Insel und erbaue mir Schritt für Schritt ein florierendes Wirtschaftsimperium, das das Zeitalter der industriellen Revolution einläutet. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg und es gibt so viele Möglichkeiten, aber auch Stolpersteine, die erledigt und aus dem Weg geräumt werden wollen. Da muss sogar das alte Sid Meier (Schöpfer von Civilization, Pirates! und vielem mehr) Zitat herhalten: „Ein Spiel ist eine Reihe von interessanten Entscheidungen.“ Und Anno 1800 beherzigt dieses Motto ungemein beeindruckend.

Die Kampagne als Endlosspielstart

Los geht es mit der Kampagne, die auch gleichzeitig in das Endlosspiel eingebettet ist und euch nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch viele Mechaniken des Spiels erklärt und damit gleichzeitig als Tutorial fungiert. Dies hat die Kampagne also mit Anno 1404 gemein, das allgemein hin als bester Teil der Serie gilt. Die Story beginnt sehr bodenständig, denn das Geschwisterpaar Goode möchte den im Kerker verstorbenen Vater von jeder Unschuld reinwaschen und gleichzeitig den kaltherzigen Onkel in die Schranken weisen. Die Geschichte bietet zwar keine überbordend gute Handlung, ist aber grundsolide und wird mit Landschaftskamerafahrten und Dialogen vorangetrieben. Viel wichtiger ist aber, dass es sehr abwechslungsreiche Aufgaben zu erledigen gibt. Nicht nur, dass ihr die Wirtschaft mit Kartoffeln für Schnaps, Schafe für Wolle und damit Kleidung und Holz als Baumaterial befeuern müsst, es sollen auch feindliche Schiffe beschattet, Revoluzzer auf eure Seite gezogen, eine Miene freigesprengt und möglichst schnell auf neue Inseln expandiert werden.

Schwacher Abschluss

Nach ungefähr 15 Stunden habt ihr dann die Grundlagen erlernt und die Story kommt zu einem offen, sehr abrupten Ende, das viel zu überhastet wirkt und mich unzufrieden zurücklässt. Damit kommt die Handlung nicht mal in die Nähe der dramatischen Ereignisse des Baus eines Kaiserdoms in Anno 1404 inklusive vieler Intrigen und einem packenden Wettlauf gegen die Konkurrenz. Außerdem könnt ihr die Kampagne abschließen, wenn ihr gerade einmal bei der Dritten von fünf Bevölkerungsstufen angelangt seid. Das bedeutet zu diesem Zeitpunkt wurde noch nicht einmal die Eisenbahn, geschweige denn Elektrizität eingesetzt, weshalb dieses Quasi-Tutorial lückenhaft bleibt und nicht ideal ins Endlosspiel eingebettet ist. Die Kampagne ist zwar trotzdem spielenswert, hätte aber auch deutlich besser ausfallen können. Das ist aber dann auch der einzige Schwachpunkt, wo Anno 1800 sich Anno 1404 geschlagen geben muss. Ähnlich wie bei meiner industriellen Revolution geht es ab jetzt steil bergauf!

Anno ist und bleibt ein Spiel über Warenkreisläufe

Der neueste Teil verwertet einige Ideen von Vorgängern erneut. So gibt es von 2205 z.B. den Gigantismus mit den Farmen und Industriegebäuden, die enorm riesigen Flächen heranwachsen können. Jede Produktionskette wird zudem sofort dargestellt, wie z.B. Wolle und Kleidung. Mit einem Klick auf Wolle wird sofort eine Farm mit Schafen ausgewählt, bei der Kleidung eine Weberei. Das ist ungemein praktisch und hilft Einsteigern die Warenkreisläufe schneller zu verstehen. Es wird sogar in Sekunden angezeigt, wie lange ein Gebäude braucht um eine Einheit zu produzieren. Außerdem ist es nun auch einfacher neue Handelsrouten mithilfe von nur wenigen Mausklicks von Insel zu Insel zu verlegen. Dabei können auch beabsichtige Umwege, um z.B. Piraten aus dem Weg zu gehen, schnell erledigt werden. Was besonders cool ist, ist die neue Welt, die es zu erobern gibt. Da Kolumbus ja schon längst Amerika entdeckt hat, gibt es auf einer zweiten Map weitere Inseln zu kolonialisieren.

Rum, Zigarren und Bier

Das Wechseln der Karten funktioniert ohne Ladebalken und innerhalb von Sekundenschnelle. Die neue, wie auch die alte Welt bringen ganz eigene Bedürfnisse und Ressourcen ins Spiel. Die EuropäerInnen freuen sich über Rum und Zigarren, die in der neuen Welt hergestellt werden. Die BewohnerInnen der neuen Welt freuen sich hingegen über ein ordentliches Bier aus der ehemaligen Heimat. Da meine Schiffe einige Minuten benötigen, um diese weiten Entfernungen zurück zu legen, muss schon von vornherein alles gut geplant sein, um ja keinen Warenengpass zu erzeugen.

Textfenster-Expeditionen

Ihr könnt mit euren Schiffen aber nicht nur Handel betreiben, sondern damit auch Seeschlachten bestreiten oder sie auf Expeditionen schicken. Für Letzteres benötigt ihr Proviant und andere Ausrüstungsgegenstände. Später ploppen dann Textfenster mit netten Geschichten auf, die die Reise der Crew und des Schiffs beschreiben. Die wiederholen sich aber leider zu schnell, was nervig werden kann. Außerdem ist es ein Glücksfaktor, ob eure Expedition gelingt oder ihr komplett leer ausgeht und Ressourcen sogar verschwendet habt. Meistert ihr jedoch die Aufgabe, gibt es seltene oder sogar epische Belohnungen. Trotz der Wiederholungen können sich die Expeditionen lohnen, denn mit diesen erhaltet ihr z.B. seltene Sehenswürdigkeiten für euer Museum, wodurch das Ansehen der Insel steigt. Damit kommen mehr zahlende Touristen, aber vor allem möchten auch mehr Menschen die Insel bewohnen.

Bevölkerungsklassen

Das ist extrem wichtig, denn ihr werdet in Anno 1800 sehr viele Arbeitskräfte benötigen. Zu Beginn des Spiels ist das noch kein Problem. Schnell sind ein paar Bauernhäuser aufgestellt, die auch schon die ersten Feldarbeiter anlocken. Sind diese dann soweit glücklich, könnt ihr je nach erreichter Bevölkerungsstufe diese dann zu Ingenieuren ausbilden. Diese wollen dann nicht mehr die bäuerliche Arbeit verrichten, sondern ihrem Ingenieurstum nachgehen. Diese neue Mechanik macht das Spiel bis hin ins Endgame sehr spannend, denn zu jeder Zeit muss genau ausbalanciert werden, welche Arbeiter, wo gebraucht werden. Gibt es z.B. zu viele Ingenieure, kann die Miene bzw. das Feld nicht mehr abgearbeitet werden. Außerdem verändert sich bei einer Umwandlung auch die Behausung, wodurch sich nicht nur das Stadtbild ändert. Die größeren Ingenieurshäuser bieten leider auch eine größere Brandgefahr, was sogar die Baupläne von Anno-Veteranen vor eine große Herausforderung stellt.

Investoren arbeiten nicht

Damit noch nicht genug, es gibt auch Spezialisten, die ihr im Rathaus oder der Handelskammer einsetzt und euch im Umkreis dieser Gebäude Boni verschaffen. So wird dann z.B. durch die Handelskammer und den richtigen Spezialisten die Produktivität von Schnapsbrennereien um 40% angekurbelt. Damit bin ich abermals gezwungen Gebäude für eine effizientere Produktion anders zu positionieren. In der fünften Bevölkerungsstufe könnt ihr dann Investoren ausbilden, die überhaupt nicht mehr arbeiten. Die geben sich dann nicht mehr mit dem Pöbel ab, sondern saufen lieber Sekt und rauchen dazu Zigarren. Diese und andere Luxusgüter wie z.B. Schokolade müsst ihr in komplizierteren Produktionsketten herstellen. Und wofür das alles? Einerseits zahlen die Investoren einen großen Haufen an Steuern und bringen euch zudem noch Einfluss, eine sehr essenzielle Ressource im Spiel. Je mehr ihr davon besitzt, umso höher ist auch das Limit eurer Schiffsflotte und die Anzahl an Inseln oder Handelskammern, die ihr besitzen könnt.

Monumentalbauten inklusive Weltausstellungen

Ihr könnt euren Einfluss aber auch auf für Zeitungsartikel verwenden, die kurz vor der Veröffentlichung stehen und über eure Erfolge und Fehlschläge berichten. Mit ein bisschen Einfluss kann da ein wenig zensiert und nachgebessert werden. Mit der richtigen Propaganda kann die Bevölkerung z.B. zu mehr Konsum verleitet werden. Die Entscheidungen wie ich die Mangelware Einfluss einsetze befeuern das Mid- und Lategame und zwingen mich zu weiteren spannenden Entscheidungen. Die Investoren haben noch eine letzte Funktion, denn erst mit ihnen können Monumentalbauten errichtet und damit Weltausstellungen gefeiert werden. Das erhöht die Attraktivität der Insel, wirft wertvolle und mächtige Gegenstände ab, kostet aber auch horrende Mengen an Ressourcen. Warum das nicht als dramaturgischer Höhepunkt in die Kampagne mit eingewoben wurde, wird wohl für immer ein ungelöstes Rätsel bleiben. Trotzdem erfüllt die Weltausstellung ihren Zweck: sie hält das Endgame auch nach zig Stunden spannend.

Das abwechslungsreichste Anno-Endgame

Das liegt aber nicht nur daran, denn sobald ihr eine bestimmte Bevölkerungsstufe freigeschaltet habt, könnt ihr Eisenbahnen und Strom produzieren. Das verändert absolut alles und die ganze bisherige Planung muss mit Eisbahn- und Stromnetzen neu überarbeitet werden. Dazu gibt es ja noch das Museum und den Zoo, wo seltene Gegenstände bzw. Tiere ausgestellt werden, die man sich durch Quests und Expeditionen erarbeiten kann. Neue Technologien wie Strom verändern aber nicht nur eure Bauweise, sondern auch automatisch das gesamte Stadtbild. Wo früher einmal Pferdekutschen herum dümpelten, fahren jetzt erste Autos durch die Straßen. Die industrielle Revolution verändert Stück für Stück eure Inseln und Städte und alleine das Zusehen bei diesen Veränderungen macht enorm viel Spaß.

Keine moralischen Bedenken

Moralisch gesehen sind industrielle Revolution und (Spät-) Kolonialismus ein absolut zweischneidiges Schwert. Das lässt euch Anno 1800 aber nie spüren. Auch wenn ihr noch so viel Öl verbraucht und theoretisch ja all die Städte verschmutzt, macht euch das Spiel im Gegensatz zu Anno 2070 keine Vorwürfe mehr. Der neueste Teil ist ein absolutes Feelgoodspiel, das euch zu keinem einzigen Zeitpunkt mit moralischen Fragen belastet, wie es z.B. ein Frostpunk tut. Schwierige Entscheidungen sind immer wirtschaftlich, nie moralisch. Dafür lässt man euch aber auch die Freiheit nach eurem Gutdünken und ungestört ein Wirtschaftsimperium aufbauen.

Teure Friedensverträge

Naja zumindest teilweise ungestört, denn die KI ist teilweise sehr kompetent und auf höheren Schwierigkeitsstufen auch sehr aggressiv. Da ist es so schade, dass es nur wenig Möglichkeiten zur Diplomatie gibt. Man kann zwar selbst ein Friedensangebot machen und dafür Geld bezahlen. Ein solches Angebot erhält man aber nie von den KI-Mitstreitern. Das ist besonders dann nervig, wenn ich klar im Vorteil bin und einfach nur nicht gestört werden möchte. Dann stehe ich vor der Wahl mit vielen Ressourcen den KI-Feind auszuschalten oder einen ebenfalls teuren, aber nervenschonenden Friedensvertrag anzubieten. Der fällt auch teuer aus, wenn meine Flotte zehnmal so groß ist, wie die gegnerische Streitmacht und ich über doppelt so viele Inseln verfüge. Trotzdem bin ich derjenige der für den Friedensvertrag bezahlen muss und das fühlt sich sehr unlogisch und ein wenig unbefriedigend an.

Große Materialschlachten

Wenn wir schon beim Krieg sind: der findet nur noch zur See statt, Landschlachten gibt es keine mehr (ein Glück!). Schiffe sind für Handel, Entdeckung und Kampf zuständig, was sie sehr vielseitig macht. Es gibt davon acht verschiedene Typen mit sehr unterschiedlichen Vor- und Nachteilen, wie Schnelligkeit, Robustheit, aber auch beim Preis. Bei einer kleinen Flotte können die richtigen Schiffstypen zwischen Sieg und Niederlage entscheiden. Große Flotten sind hingegen reine Materialschlachten und können sich sehr lange hinziehen. Der Krieg und die Kämpfe sind für ein Anno ganz gut. Für Aufbaustrategiespiele allgemein, sind diese Schlachten aber nicht die Krone der Schöpfung und könnten für meinen Geschmack noch deutlich taktischer ausfallen.

Inseln erobern

Eine Insel kann nur übernommen werden, wenn auch der Hafen der Insel zerstört wird. Interessanterweise kann man aber auch Anteile einer Insel kaufen, was sehr teuer ist und sogar diplomatische Nachteile mit sich bringen kann. Neidige Kontrahenten sehen das nämlich nicht gerne, weshalb auch der Kauf von Inselanteilen zu einem Krieg führen kann. Das passiert aber nur, wenn man die KI aggressiver einstellt und zum Glück kann bei jedem Endlosmatch alles sehr genau eingestellt werden. Sollen Ressourcen oft vorkommen oder die Inseln karg bleiben? Welche KI-Mitstreiter gibt es und wie sind sie euch gewogen? All das kann den eigenen Vorlieben angepasst werden, was die eher mittelmäßigen Kämpfe wieder ein wenig wettmacht. Die KI-Kontrahenten sind vor allem für eines gut und zwar euch anzutreiben. So muss ich z.B. schnell expandieren, um mir noch rechtzeitig meine „Lieblingsinsel“ zu ergattern, bevor sie mir die KI unter der Nase wegschnappt. Diesen Gameplayaspekt erfüllen die NPC-Gegner und das reicht den meisten Anno-SpielerInnen, ich eingeschlossen, dann auch.

Anno 1800 Fazit

Man könnte jetzt noch seitenweise über Multiplayer, Handelsrouten, Einflusspunkte oder sonstige Mechaniken sinnieren. Das erspare ich euch aber und stelle ganz sachlich fest: Anno 1800 ist ein Aufbauspielmonster, dass zwar eine eher maue Kampagne hat, die aber in ein so wundervolles Endgame übergeht. Das ist meiner Meinung nach sogar noch besser als in Anno 1404, weil es noch so viel mehr Abwechslung in jede Partie bringt und es niemals langweilig wird. Wenn ich dann Nachts gegen drei ungläubig auf die Uhr starre, weiß ich, dass Anno 1800 sehr viel richtig macht. Trotz einiger, unleugbarer Schwächen vergeht die Zeit wie im Flug und der Strom an spannenden Herausforderungen will einfach nicht abreißen. Es gibt enfach so viel zu tun und noch so viel zu erledigen – herrlich!

Wertung: 8.7 Pixel

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