2017 ist das neue 1984 – Orwell im Test

von Marianne Kräuter 14.03.2017

Es ist der 12. April 2017. Ein Bombenattentat auf dem Freiheitsplatz der Nation erschüttert die Bevölkerung; die Meldung verbreitet sich wie ein Lauffeuer durch die Medien. Es ist an der Zeit, das Überwachungs-Computerprogramm Orwell einem Test zu unterziehen, um die verantwortlichen Terroristen zu finden.

Big Brother in der Beta-Phase

Ich wurde ausgewählt, an dieser Testphase teilzunehmen und werde mit dem Fall des Bombenattentats betraut. Ich logge mich also in das Programm ein und werde von einem “Berater” in die Funktionsweise von Orwell eingeführt. Zunächst kann ich im “Reader” offene Websiten und Onlineprofile durchstöbern, um mehr über Personen herauszufinden. Finde ich Telefonnummern oder E-Mailadressen können deren Telefonate abgehört und ihr Schriftverkehr mitverfolgt werden. Im Laufe des Spiels erhalte ich auch einige IP-Adressen, die mir Zutritt zum Inhalt privater PCs oder Smartphones verschaffen.

Gewisse Textstellen werden vom Spiel automatisch markiert und können in das Programm Orwell hochgeladen werden. Mein Berater sieht nur die Informationsschnipsel, die ich ihm in Orwell zur Verfügung stelle. Es will also wohl überlegt sein, welche Textstellen übertragen werden und welche nicht – Eine scherzhafte Bemerkung unter Freunden kann so schnell als ernste Drohung aufgenommen werden. Auch widersprüchliche Textpassagen gibt es, bei denen ich selbst entscheiden muss, welcher davon ich Glauben schenke.

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Links sehen wir das Orwell-Profil von Cassandra, rechts sind wir in einem Chat gerade auf widersprüchliche Informationen gestoßen.

Das Spielprinzip lässt sich also eigentlich in einem Satz zusammenfassen: Die vorhandenen Quellen durchsehen, Informationen filtern und ausgewählte Textpassagen in das Programm Orwell übertragen – mehr “Spiel” gibt es nicht. Gut, dass die Handlung mit ihren Wendungen spannend genug ist, um einen bei der Stange zu halten.

Der Faktor Mensch

Das Programm Orwell ist dazu gedacht, auf möglichst objektive Weise Verbrechen aufzuklären. Dass der Fehler des Systems die Menschen selbst mit ihren Gefühlen und Neigungen sind, habe ich als Spielerin selbst schnell gemerkt. Durch das Herumstöbern in der Privatsphäre der einzelnen Personen, lernt man diese auf eine intime Art kennen. Es entwickeln sich Sympathien oder Abneigungen, die das eigene Spielverhalten beeinflussen. Gern lässt man sich auch von den Anweisungen des Betreuers beeinflussen, der einen zur Eile antreibt, oder ein bestimmtes Fazit möchte.

Orwell

Intime Informationen, wie Krankenakten, stehen uns zur Verfügung.

Die Fragen, die dabei aufgeworfen werden, mögen nicht neu sein, jedoch aktuell und wichtig: Welchen Preis bezahlen wir für die vermeintliche Sicherheit durch totale Überwachung? Wie beeinflussbar, subjektiv und fehlbar sind wir Menschen in unserem Denken und Handeln? Wie viel geben wir von uns offen im Internet preis? Welche Auswirkungen hat ein System wie Orwell auf eine Gesellschaft? Heiligt der Zweck alle Mittel? Zum Teil werden diese Fragen durch die Geschehnisse im Spiel beantwortet, zum Teil wird es einem selbst überlassen, eine Antwort für sich zu finden. Jedoch kommt Orwell eindeutig zum Schluss, dass ein totalitärer Überwachungsstaat nicht erstrebenswert ist.

Die Gedanken sind frei

Orwell macht kein Geheimnis um sein großes Vorbild: Im Mittelpunkt stehen ein fiktiver totalitärer Überwachungsstaat, wie ihn George Orwell in seinem Science-Fiction-Klassiker 1984 entwarf, und dessen negative Auswirkungen auf die Gesellschaft. Während der Autor in den vierziger Jahren viele der dort verwendeten Technologien wie Kameras und Computer voraussagte, wirkt der Stoff in Zeiten von Abhörungs-Enthüllungsskandalen, Wikileaks und Überwachungskameras an jeder Straßenecke so aktuell wie nie zuvor.

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Auch Telefonate lassen sich einfach abhören.

Die simple Spielmechanik mag sich vor Ende abnutzen, jedoch können die interessante Erzählung und die darin aufgeworfenen Fragen das Spiel bis zum Ende tragen. Wer sich für dieses Themengebiet begeistern kann und gut genug in Englisch ist, nimmt sich fünf Stunden Zeit und spielt Orwell.

Wertung: 8 Pixel

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