Watch Dogs (PS3/PS4) im Test

von Max Hohenwarter 28.05.2014

Im Chicago der nahen Zukunft ist alles mit allem und jedem vernetzt. Der gläserne Mensch ist Realität. Privatsphäre existiert nicht mehr. Mit dem dystopischen Hacker-Krimi Watch Dogs startet Ubisoft – neben seinen Steckenpferden Assassin’s Creed und Far Cry – erneut ein Open-World-Franchise, das sich noch mehr als die anderen beiden Serien mit Rockstars GTA messen will. Ob Aiden Pearce auch unsere Wertungsskala hacken und Höchstwertungen für sich verbuchen kann, erfahrt ihr in meinem Test.

Ein fataler Fehler

Alles hätte so einfach und wie geschmiert laufen sollen. Rein ins Merlaut, die Reichen und Schönen per Smartphone um ihr hart ergaunertes, vielleicht in einigen wenigen Fällen auch ehrlich verdientes Geld bringen und wieder weg. Doch wie das im Leben so ist, kommt es anders. Irgendein unbekannter Hacker hat uns unseren Coup versaut. Ich bekomme Panik, breche ab, muss raus aus diesem Laden.

Das ist nun einige Jahre her, und darum stehe ich heute hier am Grab meiner süßen Nichte Lena. Irgendjemand hat Killer auf mich angesetzt. Die Erinnerungsfetzen haben sich in mein Hirn gebrannt. Alles geht ganz schnell, und dennoch läuft es für mich immer wieder in Zeitlupe ab: Ich sitze im Auto, die kleine Lena auf dem Beifahrersitz. Plötzlich das Donnern eines Motorrads hinter uns. Ein Schuss. Ich blicke einem Biker ins Gesicht, als er uns überholt. Der Reifen platzt. Unser Wagen überschlägt sich mehrfach, am Ende ist meine kleine Nichte tot … weil ich den Merlaut-Job abgebrochen habe, ist die kleine Lena nicht mehr unter uns … Mein Fehler … Nein … Deren Fehler. Sie wissen nicht, wen sie da gerade wütend gemacht haben.
Ich werde meine Rache bekommen. Mein Name ist Aiden Pearce und Hacken ist meine Waffe.

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Von FixerInnen und HackerInnen

Ein Schädelknacken. Aiden will einen Namen wissen. Auf dem Boden eines Umkleideraums vor ihm liegt ein blutender, misshandelter Typ – Maurice Vega. Aidens Kontaktmann Jordi Chin hat für ihn einen der Motorradschützen ausfindig gemacht. Aiden wird wütender und wütender: „Der Name, Arschloch!“, schreit Aiden ihn an.

10014313_732513000104915_2796237152163598937_oMaurice erstickt fast in seinem eigenen Blut, spuckt es aus, bekommt gerade noch eine wimmernde Warnung heraus: „Du solltest es am besten einfach vergessen! Das Ganze ist zu groß. Du weißt nicht, wo du da hineingerätst.“ Ein lautes, berstendes Geräusch. Der Teleskopschlagstock fährt mit voller Wucht in Maurices Genick und bricht es. Aiden hackt das Telefon des Killers und kann eine Audiodatei sicherstellen. Er ist auf der Spur des Auftraggebers – und Aiden wird ihn unerbittlich zur Strecke bringen.

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Doch jetzt heißt es erst einmal weg vom Tatort. Verdammt! Ein Zeuge steht uns mit der Pistole im Anschlag gegenüber. Erleichterung! Jordi taucht auf und sticht dem Bandenmitglied in die Niere. Der exzentrische Asiate im Anzug ist ein Fixer. Er bringt Sachen in Ordnung, fälscht Beweise, inszeniert Tathergänge. Kurzerhand legt Jordi dem Niedergestochenen die Pistole in die Hand und lässt ihn auf einen weiteren Gangbanger schießen, um alles nach einem Bandenkrieg aussehen zu lassen. Die Polizei hat er passenderweise auch gleich gerufen, und nun heißt es hinaus aus dem Stadion, um in der Menschenmenge unterzutauchen.

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Blackout

Ab diesem Punkt wirft uns Watch Dogs ins aktive Spiel. Fortan bekommen wir die grundsätzlichen Spielmechaniken beigebracht, manipulieren Maschinen, schleichen uns an Wachen vorbei und basteln uns kleinere Gerätschaften, die uns helfen, die Ordnungshüter abzulenken. Das Hacken in Watch Dogs funktioniert meist nach einem eingängigen, später sehr repetitiven Prinzip. Man verbindet sich mit der erstbesten sichtbaren Kamera, spioniert den Raum aus, markiert Sicherheitskräfte und tastet sich so bis zu einem Sicherungskasten vor, der gehackt werden muss, um entweder Türen zu entriegeln oder erweiterten Zugriff auf einen Großrechner zu bekommen. Anfangs wirkt das noch spektakulär, zumal es effektreich umgesetzt ist, mit zunehmender Spieldauer wird es dann aber eher zur nervigen Pflicht.

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So bahnen wir uns den Weg durch die Sportstätte und führen zum Schluss mittels Blackout-Gadget einen kompletten Stromausfall herbei, um wie geplant in der Masse unterzutauchen. Als wir aus der Baseballarena draußen sind, heißt es noch Fersengeld geben. Zu diesem Zweck hat uns unser Fixerfreund einen Wagen bereitgestellt, mit dem wir vor den herannahenden Polizeiautos fliehen können. Als uns die Staatsgewalt zu sehr auf die Pelle rückt, hacken wir ein paar Ampeln, um an Kreuzungen einen Crash herbeizuführen und so die Häscher abzuhängen.

10272531_732955273394021_8256516415431321721_oGeorge Orwell revisited

Nach diesem Tutorial überlässt uns Watch Dogs, ganz nach Open-World-Manier, dem Chicago der nahen Zukunft. Ab sofort dürfen wir uns in diesem total überwachten Großstadtmoloch herumtreiben und zahlreiche Nebenaufgaben bewältigen oder uns in nahtlos in den Singleplayer eingebetteten Multiplayer-Scharmützeln austoben, in denen wir in andere Spiele eindringen, die entsprechenden Leute hacken, Rennen fahren oder an einem hackingbasierten Team-Deathmatch teilnehmen.

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Man wird von der anfangs bereitgestellten Fülle an Möglichkeiten fast erschlagen. Da gilt es, unter anderem Gangverstecke auszuheben, Konvois von Verbrechern abzufangen oder auch einfach nur zufällig auftretende Verbrechen zu verhindern. Letzteres ist Aiden nicht etwa möglich, weil er ein Hellseher ist, sondern weil ganz Chicago durch das ctOS, das Central Operating System, vernetzt ist. Alle BürgerInnen sind durch diese totale Überwachung ein offenes Buch. Dieses System hat Aiden gehackt, und so ist es ihm möglich zu wissen, dass Mr. Smith sich öfter in SM-Clubs herumtreibt, Ms. Doe gern den einen oder anderen Joint raucht oder Johnny Jackson in Bälde seine Freundin vergewaltigen will. Diese Straftaten könnt ihr dann verhindern und so Geld und Erfahrung sammeln.

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Habt ihr genügend von Letztgenannter angesammelt, bekommt ihr Skillpoints, die ihr in vier Fertigkeitenbäume investieren könnt, um noch mehr hacken oder besser fahren und schießen zu können. Mit der Knete, die ihr euch ergaunert, verhält sich das schon ein bisschen anders, denn ihr braucht sie eigentlich nicht. Es gibt zwar Geschäfte, in denen ihr Waffen kaufen könnt, aber das ist ziemlich unnötig. Jede Waffe, die ein Gegner fallen lässt, könnt ihr euch nämlich in die Taschen schieben, und selbst wenn es für Aiden mal „Game over“ heißt, steht er nach einer kurzen Ladezeit mit der ganzen Ausrüstung wieder parat. Ach ja: Ihr könnt euch für die Knete Karren von Jordi bestellen. Das ist aber auch wieder ziemlich sinnlos, weil ja genügend in ganz Chicago herumstehen oder -fahren, die ihr einfach klauen könnt. Ihr seht schon: Irgendjemand hat da nicht ganz mitgedacht, und so ist Geld in Watch Dogs eigentlich ziemlich wertlos, außer vielleicht für die Fashion Victims unter euch, die ihre erhackte Kohle in Klamotten investieren möchten.

Die Schönheit der Nacht

Watch Dogs hat in der jüngeren Vergangenheit in Sachen Grafik für einen Shitstorm gesorgt. Das E3-Video von 2012 versprach eine optische Granate. Nun steht es im Laden, und bereits im Vorfeld war abzusehen, dass das Spiel nicht mehr ganz so großartig aussehen würde. Auch die Auflösung und die Framerate wurden erst kürzlich nach unten korrigiert, und so wurde aus den versprochenen 1080p bei 60 Frames der Next-Gen-Versionen auch nichts mehr.

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Tagsüber ist man vom virtuellen Chicago etwas ernüchtert. Die Lichtspiele sind weit weniger imposant als bei der Ankündigung, und auch die gezeigte physikalisch korrekte Bewegung von Aidens Mantel im Wind wurde zurückgefahren.

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Wenn es aber Nacht in der Windy City wird oder der Regen einsetzt, sieht das Ganze wieder echt hübsch aus. Die Neonlichter werden von den Regenpfützen reflektiert, und die vielen Partikeleffekte lassen die Schauer sehr natürlich wirken. Vor inFamous Second Son muss sich Watch Dogs in der Dunkelheit absolut nicht verstecken. Man möchte fast sagen, dass das Tageslicht der Feind der optischen Präsentation ist.

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Die Explosionen sehen dafür immer schön aus, und das bisschen Wasser, das der Chicago River durch die betonierte Großstadt fließen lässt, ist wirklich großartig geraten. Was den Sound und die SprecherInnen angeht, trumpft Watch Dogs wiederum auf. Sehr gute SprecherInnen bilden mit den Soundeffekten und den für das Spiel lizenzierten Songs – unter anderem von den Smashing Pumpkins, Alice Cooper, Weezer und Danko Jones – eine durch und durch gelungene Klangkulisse.

Ein Hund, der bellt …

… beißt nicht, sagt der Volksmund. Den Vorschusslorbeeren wird Ubisoft mit der Verkaufsversion von Watch Dogs nicht gerecht. Als erstes Manko wäre da der etwas blasse Aiden Pearce zu nennen, dessen Rachestory zwar ganz nett ist, aber eher unter die Kategorie „ausgelutschter Kaugummi“ fällt. Man kann sich nicht so hundertprozentig in seine Lage versetzen, erfährt außerdem zu wenig über seinen Background und darüber, wie er überhaupt zu dem wurde, der er zu Spielbeginn ist. Die Nebencharaktere, wie beispielsweise der abgebrühte und dennoch charmante Jordi Chin oder auch die an Lisbeth Salander erinnernde Hackerin Clara Lille, bieten weitaus mehr Tiefe.

Die totale Überwachung durch den Staat und der gläserne Mensch sind in Watch Dogs auch mehr Szenario und Mittel zum Zweck denn tatsächliches Storyelement. Und das, obwohl die Thematik so viel mehr bieten würde, da wir uns schon mitten in diesem Albtraum befinden, der tatsächlich vermag, uns allen Angst zu machen. Da hätte ich mir etwas mehr Gesellschafts- und Zeitgeistkritik gewünscht. Dann wären da noch einige Spielmechaniken, die nicht so wirklich durchdacht wurden: Stichwort Geld. Und auch die Grafik ist nur bedingt ein Augenschmaus.

Warum also doch diese relativ hohe Wertung? Ganz einfach: Watch Dogs bietet eine lebendige Spielwelt, die die SpielerInnen durchaus in ihren Bann ziehen kann. Zum Beispiel durch die ständig aufploppenden Kurzbios mit privatesten Infos zu den Personen, was zugleich witzig und beängstigend ist. Außerdem ist der Multiplayer-Modus gut eingebettet, die Nebenmissionen sind zahlreich und beschäftigen einen lange, es gibt einige witzige Spielideen wie die Manipulation der kompletten Umgebung, eine extrem gut funktionierende und fordernde Stealth-Mechanik, Rollenspiel- und Crafting-Elemente, eine rundum gelungene Geräusch- und Klangkulisse und die sogenannten Digital-Trips, die ich euch nicht spoilern werde und dennoch ans Herz lege.

All diese positiven Aspekte machen Watch Dogs zu einem runden Erlebnis, das zwar etwas hinter den Erwartungen zurückbleibt, aber dennoch gut unterhält. Blickt man außerdem auf Ubisofts großartige Assassin’s Creed-Reihe, weiß man, dass der französische Publisher sich Kritik zu Herzen nimmt, an einem durchwachsenen Grundkonzept mit dem Fortschreiten der Serie feilt und manches verbessert und verfeinert. Insofern freue ich mich auf ein noch besseres Watch Dogs 2 und empfehle den Erstling trotz einiger Schwächen allen Fans von Open-World-Spielen.

Wertung: 8.5 Pixel

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[…] Dass Ubisoft außerdem Unmengen Drinks im Watch_Dogs Style ausschenkte, könnte man nun als Bestechung der Fachjournalisten werten, um bessere Wertungen zu bekommen, aber dass das gar nicht nötig gewesen wäre, beweist unser Test, der bereits vor dem Event online ging. Solltet ihr es noch nicht gemacht haben, lest ihr unser Review übrigens hier! […]