Mari liest: Harry Potter and the Cursed Child

von Marianne Kräuter 21.09.2016

Setzt eure Spitzhüte auf, packt eure Zauberstäbe, Besen und Eulen ein – Endlich geht es wieder nach Hogwarts! Mit dem achten Ausflug in das von J.K. Rowling erdachte Zauberuniversum halten wir erstmals keinen Roman, sondern das Skript zum Theaterstück Harry Potter and the Cursed Child in den Händen. Ich habe das Buch gelesen und freue mich darauf, mit euch darüber zu diskutieren!

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Achtung, Spoiler!

Das ist sie gleich zu Beginn, die Spoiler-Warnung: Ich werde in diesem Artikel hauptsächlich meine Meinung zu Harry Potter and the Cursed Child darlegen und das geht natürlich nicht, ohne Bezug auf den Inhalt zu nehmen. Wer das Buch also nicht gelesen hat und nichts über die Geschichte wissen möchte, sollte schleunigst disapparieren! Alle hingegen, die sich das Skript zu Gemüte geführt haben und an meiner Kritik interessiert sind, erwartet im Rest des Artikels genau das.

19 Jahre später

Zunächst als Erinnermich ein kurzer Abriss der Handlung: Diese dreht sich hauptsächlich um den jüngsten Sohn Harrys, Albus Severus. Das Stück beginnt genau mit der Szene, mit der der Harry Potter und die Heiligtümer des Todes endet. Harry und Ginny stehen am Gleis 9 3/4 und verabschieden den elfjährigen Albus zu seinem allerersten Jahr im Hogwarts. Was wir im siebten Band von Harry Potter nicht mehr miterlebten, war, dass Albus sich ausgerechnet sogleich mit Draco Malfoys Sohn, Scorpius, anfreundet und nach Slytherin gewählt wird. In den ersten Schuljahren kämpft er mit dem schweren Erbe, der Sohn von Harry Potter zu sein und den Erwartungen, die dadurch in ihn gesetzt werden, nicht gerecht zu werden. Dazu kommt, dass sich Harry in seiner Vaterrolle überfordert fühlt und sich Albus emotional immer weiter von ihm entfernt.

Als eines Abends Amos Digory bei Harry auftaucht und ihn um einen Zeitumkehrer bittet, um den Tod seines Sohnes Cedric durch Voldemort zu verhindern, weist Harry ihn ab. Daraufhin beschließt Albus, sich diesen Zeitumkehrer anzueignen und zusammen mit Scorpius in die Vergangenheit zu reisen, um Cedric zu retten. Es folgt ein Desaster aus alternativen Gegenwarten, eine schrecklicher als die andere und natürlich wirft Voldemort seinen langen Schatten auf die Geschehnisse.

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Wie in guten alten Zeiten

Harry Potter and the Cursed Child bescherte mir viele Momente, die mich an Szenen aus den früheren Büchern und Filmen erinnern. So ließ mich die Dynamik der Interaktionen altbekannter Charaktere öfters schmunzeln. Harry, Ron, Hermine und Draco mögen alle erwachsen, verheiratet und berufstätig sein, dennoch bleibt ihre Persönlichkeit in den neuen Dialogen erhalten. Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht weiterentwickelt hätten! Besonders schön fand ich die Szene in der Draco Harry von seiner verstorbenen Frau erzählt, für die er gegen seinen Vater rebellierte. Diese aufopfernde und fürsorgliche Seite Dracos bekamen wir in den Romanen nur äußerst selten zu Gesicht.

Dass sich das Theaterstück so nahtlos in das bestehende Harry-Potter-Universum einzufügen scheint, liegt nicht nur an bekannten Charakteren, sondern auch an der Geschichte selbst. Diese wirkt nämlich, als wäre sie aus altbekannten Handlungs-Puzzleteilen zu einem neuen Bild zusammengesetzt worden. Ein paar Beispiele gefällig? Wichtigstes Element ist ein Zeitumkehrer, der in Der Gefangene von Askaban ebenfalls eine entscheidende Rolle spielte. Ein Einbruch ins Zaubereiministerium mithilfe Vielsafttranks? – Been there, done that. Benötigte Parsel-Kenntnisse hatten wir nicht nur in Harry Potter und die Kammer des Schreckens. Dazu kommen zunächst unscheinbare/nutzlose Gegenstände, die sich als rettendes Element entpuppen, das obligatorische Gespräch mit Dumbledore, vermeintliche Verbündete, die sich als Feinde entpuppen, und und und.

Manche mögen das als Fan-Service sehen, andere mögen behaupten, J. K. Rowling gingen die Ideen aus. Wieder andere mögen sagen, dass die Handlung eigenständig genug sei und die bekannten Elemente für ein glaubwürdiges, kohärentes Universum sprächen. Für mich war die Handlung frisch und anders genug, um mich zu fesseln, auch wenn sie zugegebenermaßen ihre Probleme hat.

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Handlungslücken

Genau diese Probleme möchte ich nun ansprechen. Erstens ist die Motivation Albus’ Cedric zu retten äußerst fadenscheinig. Das ist ein vor über 20 Jahren verstorbener Typ, von dem Albus das erste Mal mit 14 Jahren in einem zufällig belauschten Gespräch erfuhr. Was ich noch weniger verstehe: Scorpius, den mit Albus eine wahre Bromance verbindet, hat vor zwei Jahren seine Mutter verloren und kein einziges Mal kommt bei den beiden auch nur der Gedanke auf, ihren Tod zu verhindern?!

Und nun zum unglaublichsten Punkt der Geschichte: Voldemort hat mit Beatrix Lestrange ein Kind gezeugt?! Abgesehen davon, dass das Zeitfenster für Zeugung und Geburt Delphinis ziemlich knapp ist – Warum wusste niemand davon? Wo war dieses Baby während Heiligtümer des Todes? Einen Teil seiner Macht an ein Erbe abzugeben, scheint für Voldemort sehr untypisch. Außerdem stelle ich die Zeugungskraft eines leichenblassen Mannes ohne Nase in Frage, der seine Seele in sieben Teile gespalten und sich monatelang vom Melkerzeugnis seiner Hausschlange ernährt hat.

Was wohl auch jedem und jeder aufgefallen sein dürfte, ist, dass Zeitumkehrer anders funktionieren! Gab es im dritten Teil von Harry Potter nur eine Zeitlinie, auf der sich alles abspielte, liegen nun mehrere Paralleluniversen vor, getrennt durch Ereignisse der Vergangenheit. Sprich, in Der Gefangene von Askaban haben wir gelernt, dass sich die Vergangenheit durch das Benutzen eines Zeitumkehrers nicht verändert. Die Ereignisse in der Vergangenheit bedingen, dass man sich in der Zukunft dazu entscheidet den Zeitumkehrer zu benutzen, damit alles so abläuft, wie es geschehen ist. Im neuen Buch wird einmal lapidar “Professor Croaker’s Law” erwähnt, welches besagt, dass man nicht länger als fünf Stunden in der Zeit zurückreisen kann, ohne wahrscheinlich schweren Schaden anzurichten. Nun gut, das würde die veränderte Funktionsweise des Zeitumkehrers erklären, stellt mich aber nicht vollends zufrieden.

harry potter and the cursed child book foto

Bedrucktes Papier gegen visuellen Bombast

Als letztes möchte ich noch ein Wort über die stark unterschiedliche Bewertung von Theaterstück und Skript verlieren. In einem Skript gibt es (abgesehen von einigen Regieanweisungen) keinerlei Beschreibungen, die Geschichten für Leser lebendig machen. So mögen die Verwandlungen der Charaktere durch Vielsafttrank auf der Bühne magisch aussehen, am Papier liest sich das ohne detaillierte Schilderung äußerst nüchtern. An den Anmerkungen lässt sich ablesen, dass Harry Potter and the Cursed Child ein visuell aufregendes Spektakel sein muss, wie man es selbst bei großen Musicals selten zu sehen bekommt. Auch die vielen kurzen, schnell wechselnden Szenen erinnern mich eher an einen Film als ein Theaterstück. Schließlich sind wir es im Theater gewohnt, dass sich oft ganze Akte vor einer einzigen Kulisse abspielen.

Ich glaube, dass auch Szenen, die im Skript als “zu schnell abgehandelt” erscheinen, auf der Bühne eine fantastische Wirkung entfalten können. So gingen mir in geschriebener Form besonders die ersten drei Schuljahre von Albus viel zu schnell, die das Auseinanderdriften von Harry und seinem Sohn thematisieren. In Theaterrezensionen hingegen wurde eben diese Szene als eine der emotional beeindruckensten genannt.

Da beim Lesen das fulminante Beiwerk wegfällt, fallen natürlich Logikfehler und Ungereimtheiten in der Handlung umso stärker auf. Ebenso wird uns bewusst, dass einige spannenden Charaktere nur am Rande vorkommen. Wo in einem Roman Platz für weitere Personen wäre, muss man sich in einem Theaterstück jedoch beschränken. Bei mehr Figuren wäre es schwierig gewesen, innerhalb weniger Stunden eine Bindung zum Publikum aufzubauen und Charakterentwicklungen zu zeigen. Ich finde, es ist den Autoren und der Autorin durchaus gelungen, sich auf die wichtigen Personen und interessanten Beziehungen zu konzentrieren. Besonderes Lob verdient die Darstellung der Vater-Sohn-Beziehung von Harry und Albus sowie die enge Freundschaft der beiden Außenseiter Albus und Scorpius.

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Fazit

Ich könnte wohl noch locker weitere tausend Wörter über J. K. Rowlings neustes Werk schreiben, doch es ist längste Zeit, einen Abschluss zu finden. Harry Potter and the Cursed Child allein anhand des Buchs zu beurteilen ist meiner Meinung nach, ungerecht, da dem Skript einerseits der visuelle Bombast der Bühnenshow und andererseits die stimmungsvollen Beschreibungen eines Romans fehlen. Harry-Potter-Fans finden hier viele wunderbare Elemente und Szenen, die dem Franchise gerecht werden. Leider können weder beeindruckendes Schauspiel noch die äußerst gelungen geschriebenen zwischenmenschlichen Beziehungen die großen Schwächen und Ungereimtheiten der Handlung übertünchen.

Wie ist eure Meinung zu Harry Potter and the Cursed Child? Grandioses neues Werk, gelungener Fan-Service oder doch nur maue Fan-Fiction? Was hat euch entzückt, was enttäuscht? Seht ihr gewisse Dinge anders als ich? Ich freue mich über eure Kommentare!

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6 Comments
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Horst

Sehr gute und ausführliche Kritik! Im Prinzip hast du alles Wichtige gesagt. Mein persönliches Fazit: Das Werk ist eine durchaus gelungene Ergänzung zum Harry Potter – Universum mit einer gesunden Mischung aus alt und neu. Ich war mit dem Buch relativ schnell durch, da ich es nur ungern aus der Hand legte. Die Plot-Löcher hast du ja schon größtenteils angesprochen. Was ich noch sagen möchte: Mit Albus und Scorpius bin ich hauptsächlich deswegen nicht warm geworden, weil ihre Entscheidungen teilweise strunz-dumm sind (sich bei einer Zeitreise selbst verhindern und gleichzeitig die ganze Welt in die Finsternis stürzen – das hat… Read more »

[…] bekommen wir mit dem Film Phantastische Tierwesen und wo sie zu finden sind das lang ersehnte Harry Potter-Spinoff. Ein neu veröffentlichter Trailer liefert Einblicke in das magische New […]

Sophia

Sehr gut geschriebene Kritik! In manchen Punkten bin ich zwar anderer Meinung, aber deine Argumentation gefällt mir sehr gut. Ich persönlich finde, dass jeder Dialog zwischen Albus und Scorpius von mehr als Freundschaft spricht, aber das hängt sicherlich auch sehr stark von der Inszenierung ab.

derHerrM

Sehr interessante Kritik, kann ich nicht ganz teilen.. Habe es eher als Fanfiction-like empfunden; besonders auch das doch sehr stark angedeutete “Verliebt-Sein” der 2 Hauptcharaktere dass dann mit einer schnell hineingeschmierten Szene zum Schluß noch relativiert wird.. Anscheinend durfte das nicht so sein.. shame on you JKR!